Glück auf die Reise, liebes Buch!
Fundstück des Monats April 2021
Mit diesem Fundstück begeben wir uns zurück in eine Epoche, die man wohl mit Recht als „die gute alte Zeit“ bezeichnen kann - ins Kaiserreich, einer Zeit des Friedens und des stetig steigenden Wohlstands für die aus Kaufleuten und Industriellen zusammengesetzten gesellschaftlichen Eliten. Diese bildeten auch in Remscheid eine in sich geschlossene Klasse. Die zur „besseren Gesellschaft“ gehörenden Remscheider Herren trafen sich jeden Sonntagnachmittag von fünf bis acht Uhr im Hotel „Zum Weinberg“ in der Elberfelder Straße, um gemeinsam das eine oder andere Glas Wein zu heben. „Man saß getrennt an Tischen je nach der Höhe des Einkommens“, wie ein zeitgenössischer Beobachter schrieb, „und hielt dabei sehr auf Ordnung und duldete keine Überhebungen. Nur ausnahmsweise, meist nur aus verwandtschaftlichen oder geschäftlichen Gründen, wurde die Steuergrenze durchbrochen. So gab es z. B. als obersten Rang einen sogenannten ‚zehnkäntigen‘ Tisch, der auch Kommerzienratstisch genannt wurde.“
Was es mit diesem zehnkäntigen Tisch auf sich hatte, darüber berichtet das vorliegende Büchlein bzw. sein Verfasser, der Oberlehrer Dr. Ludwig Kayser. In launigem, teilweise auch zeittypisch pathetischem Ton schildert er die Ereignisse, die zur Gründung eines Freundesbundes geführt haben, der sich scherzhaft K. K. D. R. S. A. G. (= kaiserlich-königlich-deutsche-Reichs-Samstagsabend-Gesellschaft) nannte. Er beschreibt sie als „eine fröhliche Schar schaffens- und lebensfreudiger junger Männer, welche die flüchtigen Stunden energisch zu erfassen, und durch Wein, Wort und Witz zu würzen wissen“. Nach und nach wurden aus den jungen, ungebundenen Mitgliedern des Freundeskreises Ehemänner und Familienväter – die samstagabendlichen Zusammenkünfte, die zunächst im Hinterstübchen der Gastwirtschaft von Ewald Pleiß in der Elberfelder Straße stattfanden, wurden gediegener und verlagerten sich auf den Sonntagnachmittag; man traf sich nun im vornehmen Hotel „Zum Weinberg“, dessen Inhaber Emil Alberty ebenfalls Mitglied des Freundeskreises war.
Ihnen allen war, neben einer gehobenen gesellschaftlichen Stellung, eine für das wohlhabende Bürgertum typische national-liberale politische Gesinnung eigen, die sich in großer Verehrung für den Reichskanzler Fürst Otto von Bismarck ausdrückte, und das sowohl im Wort (Ernst Ziegler dichtete sogar aus Anlass von Bismarcks Geburtstag eine Lobeshymne auf den Reichskanzler, die in der Zeitung veröffentlicht wurde) als auch in der Tat (Hermann Hasenclever und Emil Spennemann stifteten der Remscheider Bevölkerung zu Ehren des Reichskanzlers den Bismarckpark).
Was nun den genannten Tisch betrifft, so handelte es sich um einen von Emil Alberty für die Freundestreffen gestiftet Eichenholztisch in zehneckiger Form. Die Form des Stammtisches war nicht willkürlich gewählt: „Wer nur einigermaßen in die Geheimnisse der Geometrie eingeweiht ist, weiß, daß eine regelrechte Zehntheilung des Kreises den ‚goldenen Schnitt‘ zur Voraussetzung hat“, begründet Ludwig Kayser die Formgebung. Auch die anderen Mitglieder der Sonntag-Abend-Gesellschaft ließen sich nicht lumpen: Hermann Hasenclever stiftete kunstvoll gestaltete hohe Lehnstühle, an denen sich Emil Spennemann, Ernst Ziegler, Gustav Schürmann und Hermann Böker beteilgten. Gustav Hilger ließ kostbare Römergläser für seine Freunde mit deren Namen versehen. Durch eine originelle Stiftung verewigte sich Moritz Böker: In der Mitte des Tisches erhob sich ein bronzener Deckel, dessen Zentrum durch die Figur eines weinseligen Bacchus gekrönt wurde. Darunter verbarg sich, in die Tischplatte eingesenkt, ein großer Bowlenbehälter. Ludwig Kayser seinerseits stiftete der Gesellschaft das liebevoll in dunkles Leder gebundene Buch, das nun unser Fundstück des Monats bildet.
Er schließt die Eintragungen am 26. Juli 1886 mit den Worten: "Und nun zum Schluss: Glück auf die Reise, liebes Buch! Melde noch nach späten Jahren ein fröhliches Wachsen, Blühen und Gedeihen des kantigen Tisches und thue das Deine, ein freundliches Andenken zu sichern Deinem Verfasser Dr. Ludwig Kayser".
Zu guter Letzt fassten die Freunde den Beschluss, alljährlich ein Mitglied zu wählen, welches das vorliegende Buch zu verwahren und in demselben die Geschichte des verflossenen Jahres nachzutragen habe. Für das darauf folgende Jahr wurde Hermann Hasenclever einstimmig gewählt.
Dieser scheint es mit der ihm auferlegten Verpflichtung nicht sehr ernst genommen zu haben, denn das Buch weist keine weiteren Einträge auf. Trotzdem – oder vielleicht gerade weil es nicht von Hand zu Hand weitergereicht wurde - überdauerte es zwei Weltkriege und befand sich bis vor Kurzem im Besitz der Familie Hasenclever in Ehringhausen, welche es, zusammen mit dem aufwendig gestalteten Gästebuch des zehnkäntigen Tisches (siehe Fundstück des Monats Mai 2021), vor wenigen Wochen dem Stadtarchiv Remscheid überließ. Es lässt vor uns eine längst vergangene Epoche, die gute alte Zeit und ihre Persönlichkeiten, wieder lebendig werden; das Stadtarchiv bewahrt ihr Andenken für die Ewigkeit.
Verfasst von: Viola Meike
Titelbild: "Hotel zum Weinberg" Elberfelderstraße, um 1870; Foto 1: Gustav Hilger; Foto 2: Hermann Böker; Foto 3: Moritz Böker; Foto 4: der zehnkäntige Tisch