Die Mitglieder des zehnkäntigen Tischs
Fundstück des Monats Mai 2021 Teil 2
Die Mitglieder des „zehnkäntigen Tisches“, wie sie von Dr. Ludwig Kayser 1886 geschildert wurden:
Emil Alberty (*14.9.1851 - 1.5.1896 Köln) Inhaber des Hotels „Zum Weinberg“, verheiratet mit Alma Hasenclever
„Ihm ist es die größte Freude, ein gläubiges Gemüt hinter das Licht zu führen, und es steht ihm eine Erfindungsgabe zu Gebote, deren sich der göttliche Dulder Odysseus nicht zu schämen brauchte. Dabei macht er selbst das unschuldigste Gesicht von der Welt, und der Vorsichtige wird den Sinn seiner Worte ungefähr richtig treffen, wenn er, um es mathematisch auszudrücken, zuvor die Gleichung mit „minus eins“ multiplicirt. Der Unerfahrene fällt auf die taubenhafte Unschuld, die aus seinen Augen spricht, herein, und es gehört in der That keine geringe Kunst dazu, das gutmütig-einfältig-simple Mienenspiel zu entziffern, hinter welchem er die Schalkheit zu verbergen weiß. Umso grösser ist daher unsererseits die Freude, wenn es je und dann gelingt, ihn selbst einmal gründlich hereinzulegen, wie z. B. damals, als er vor dem neuen Adjutanten aus Gräfrath seine tiefsten und allerunterthänigsten Bücklinge machte in der festen und schmeichelhaften Überzeugung, daß ihm seine königliche Hoheit Fürst Leopold von Hohenzollern die hohe Ehre erwiesen habe, unter das Dach seines Hauses zu treten. ---Sein theatralisches Talent wird vervollständigt durch das klare Metall seiner sonoren Stimme: als Herr Schreier in „Monsieur Hercules“ sucht er seinesgleichen selbst unter den Größten der mimischen Zunft – Leider ist er gerade an den Sitzungsabenden durch seinen Beruf der Art in Anspruch genommen, daß er meistens erst in später Stunde, wenn der „Mittelheimer“ winkt, dem kantigen Tisch seine Kräfte zu widmen imstande ist. Zwischen ihm und dem Verfasser dieses Buches schwebt noch immer die ungelöste Streitfrage, wer von beiden den erhabensten Frontgiebel in seinem Gesicht aufzuweisen hat.“
Emil Spennemann (12.5.1850 – 31.3.1919) Kaufmann und Fabrikant, verheiratet mit Luisa Anna Grimm
„Kein Freund jeder längeren, wohlgesetzten Rede, kennt er kein größeres Vergnügen, als dieselbe durch die unmotiviertesten Zwischenrufe zu unterbrechen. Ein Glück, daß diese Zwischenrufe einem stets bereiten, beißenden, doch nie verletzenden Humor entspringen, der die Lacher in der Regel auf seine Seite zieht. Sein wissenschaftliches Interesse beschränkt sich keineswegs auf den Temperguß: mit Vorliebe widmete er sich in früheren Jahren der Geographie, und man darf behaupten, daß durch seinen Forschungseifer die obskursten Winkel von Hamburg und Berlin, die dichtesten Urwälder an der Spree entdeckt und der Kultur zugänglich gemacht worden sind. Leicht hätten ihm, als er 1871 als unerfahrener Guck-in-die-Welt nach Berlin kam, die Gefahren solcher Entdeckungsreisen Verhängnis werden können, wenn er nicht in Moritz Böker einen kundigen Führer und warnenden Freund gefunden hätte. Auch in der Kunst hat er sich durch rühmliche Leistungen einen geachteten Namen gemacht. Mit Recht dürfen wir daher auf die Zeichnungen gespannt sein, mit welchen er die Schilderungen dieses Buches illustrieren wird.“
Ernst Ziegler (9.6.1851 – 14.01.1916) Teilhaber der Stahlhandlung Christian Ziegler, verheiratet mit Berta Honsberg
„Das poetische Talent am zehnkantigen Tisch ist Ernst Ziegler. Mit dankenswerter Bereitwilligkeit stellt er seine Muse in den Dienst unseres Freundesbundes, sobald es sich darum handelt einer festlichen Feier die dichterische Weihe zu erteilen, er gilt daher unbestritten als der Bowlenbarde des zehnkantigen Tisches. Unvergessen sollten die Verse geblieben sein, mit welchen er Spennemanns Junggesellenabend verherrlichte. Wie über die Worte, so verfügt er über die Töne des Liedes, die in kräftigem Bariton seiner Brust entquellen. Neben diesen schönen Talenten steht ihm ein kräftiger Witz zu Gebote, der sich besonders dann wirksam erweist, wenn es gilt, die übermütigen tollen Einfälle Spennemanns in die gebührenden Schranken zurückzuweisen. Die schweren Bomben dieser Artilleristen mit einem wuchtigen Schwadronshieb zu parieren, ist seine besondere Kunst. – Zu diesem inneren treten hervorragende äußere Vorzüge: Ernst Ziegler ist eine der schönsten Erscheinungen am zehnkantigen Tisch. Schon der stramme, wohlgepflegte Schnurrbart, der jedem Hüter der öffentlichen Ordnung Ehre machen würde, verrät den ehemaligen einjährig-Freiwilligen-Garde-Ulanen, der etwas auf sich hält und in seiner äußeren Erscheinung Anmut und Würde zu verbinden weiß.“
Dr. Ludwig Kayser (*08.09.1848 Hirschberg – 12.07.1933 Kassel) Oberlehrer, verheiratet mit Alma Müller. 1886 nach Wiesbaden verzogen
„Sicher ließen sich auch über ihn manche interessante Mitteilungen machen, aber er selbst steht sich zu wenig objektiv gegenüber, als daß er für eine treffende Zeichnung den richtigen Gesichtspunkt finden könnte. Vielleicht aber wird man ihn aus seinem Werke hinreichend genug kennengelernt haben als den gewissenhaften Schulmeister, der es mit seiner Aufgabe ernst nimmt. Der trockene und nüchterne Ton dieser Darstellung lässt aber auch erkennen, in welchem Irrthum sich diejenigen befinden, welche ihm, wie Spennemann, einen idealen Schwung andichten, der im Grunde auf einen Ueberfluß von praktischem Ungeschick hinausläuft. Die deutsch-freisinnige Wahrnehmung, dass er seinen Umgang nur in den vornehmen Kreisen suche, erweist sich als ein grundloser Verdacht schon allein durch die Thatsache, daß er sich am wohlsten fühlt am kantigen Tisch, wo jeder seine besondere Ecke hat.“
Gustav Hilger (24.9.1852 – 20.11.1936) Kaufmann, Inhaber der Fa. Hilger & Söhne, verheiratet mit Ida Focke aus Bremen
Wie Moritz Boeker der zufriedene Mann, so ist sein Schwager Gustav das friedfertige Gemüt, welches kein hart absprechendes Urtheil duldet und auch einem zweifelhaften Ehrenmann stets die beste Seite abzugewinnen weiß. Doch darf er für diesen Vorzug eines weichen Herzens nicht persönlich verantwortlich gemacht werden, derselbe ist ihm als mütterliches Erbtheil angeboren. Obgleich in neben dem Verfasser der zahlreichste Familienvater- wie dieser rühmt er sich zweier Knaben und 2 Mägdlein - besitzt er dennoch eine jungfräuliche Schüchternheit, die nur mit verschämtem Wohlgefallen einem nicht völlig dezenten Scherze ein Ohr leiht. Wie auf fremde, so hält er auf eigene Ehre, mit der größten Entschiedenheit auf Bierehre, auf welcher er niemals auch nur einen Schatten von Verdacht hat sitzen lassen. Wunderbar waren auf diesem Gebiete seine Leistungen in der alten K. K. D. Wenn sich um die mitternächtliche Stunde der Schwarm verlaufen wollte, dann begann auch Gustav die energischsten Versuche zum Nachhausegehen zu machen. Aber dann genügte der leiseste Appell an seine Bierehre. „Gustav, bist doch kein B…sch…..!“, um ihn immer wieder von der Thür zurückzulocken und zur Tilgung ungezählter Stehseidel zu reizen. Dieser Versuch gelang in jeder K. K. D. mit beliebiger Wiederholung, und es ist zweifelhaft, ob man mehr dieses unfehlbare Gelingen oder die Sicherheit bewundern soll, mit der Gustav, stolz im Bewußtsein seiner That, jedesmal den Weg nach Hause fand. Daß er auch heute noch einen besonderen Sinn hat für die Freuden des Bechers, das hat er noch kürzlich durch die Stiftung der prächtigen Römer bewiesen.“
Hermann Hasenclever (8.10.1852 – 6.10.1939) Kommerzienrat
„Eine eximirte Stellung nimmt Hermann Hasenclever ein, sofern er, wie wir bereits wissen, es bis jetzt verschmäht hat, sich durch die Wahl einer besseren Hälfte zu vervollkommnen, eine Selbtgenügsamkeit, die allerdings durch eine wunderbare Vielfältigkeit seines ganzen Wesens erklärt wird. Während jener großen Zeit, da die verflossenen K. K. D. ihre schönsten Blüten trieb, tummelte er sich jenseits des Oceans in dem Pampas am La Plata, querte er den südamerikanischen Continent, zuletzt auf der der Mula den Kamm der chilenischen Kordilleren in einer Höhe von 14 tausend Fuß überreitend. War es auch vorwiegend das kaufmännische Interesse, welches ihn in die Fremde getrieben, so blieb er doch idealer Schwärmer genug, um auch in der Wildniß die Kunst zu pflegen, und in südamerikanischen Kirchen die Arien aus Mendelsohnschen Oratorien erschallen zu lassen. Hier im Vaterlande widmet er sich dem allgemeinen Wohl, indem er seine öffentliche Thätigkeit teilt zwischen einer energischen Leitung und Wiederbelebung der national-liberalen Partei des Bergischen Landes und einer stramm-kameradschaftlichen Führung der Landwehr-Kompagnie „Remscheid“. Daneben pflegt er mit besonderer Vorliebe die schöne Literatur, versenkt er sich in die Tiefen und Untiefen Hartmannscher Philosophie, ja er scheut sich nicht, die gelehrtesten Theologen durch verblüffende Fragen aufs Trockene zu setzen. Mit diesen universalen Geistesanlagen verbindet er die Liebenswürdigkeit, mit seinen Erlebnissen, Ansichten, Grundsätzen nicht hinter dem Berge zu halten. Bereitwillig übernimmt er die Unterhaltung für einen ganzen Abend, so daß den Freunden kaum etwas Anderes übrig bleibt, als in stiller Bewunderung zuzuhören und ab und zu ins Glas zu steigen. Desto empfindlicher wirkt dann der Rückschlag, wenn er den Ueberfluss seiner rhetorischen Ergüße durch ein Uebermaß von Zurückgezogenheit und freiwilliger Einsamkeit zu büßen trachtet.“
Dr. Ing. Moritz Böker (15.9.1853 – 7.1.1933) Direktor der Bergischen Stahlindustrie, Geheimer Kommerzienrat und Ehrenbürger der Stadt Remscheid, verheiratet mit Elisabeth Amalie Hilger
„Auch er erfreut sich der allen Bökern eigentümlichen Kenntzeichen, zu welchen als besonderes Merkmal eine wohlentwickelte Nase tritt, deren Spitze wie ein vorgeschobener Posten vorsichtig in die Welt lugt. Indessen verschmäht er es, diese Reize zu der gebührenden Geltung zu bringen: im stillen Bewusstsein seines inneren Wertes bietet er das Bild eines mit sich und der Welt zufriedenen Mannes dar. Am kantigen Tisch spielt er daher mit Vorliebe den Stillvergnügten, der bei der harmlosesten Geschichte daßelbe Wohlgefallen empfindet, wie bei der Erinnerung an die Abenteuer, die er weiland unter Spennemanns Begleitung im Spreewald, in Berlin und Hamburg „kühl bis ans Herz hinan“ erlebt hat. Im Zirkus, wie im Liebhabertheater spielt er den “Ojust“ mit unübertroffener Einfalt. Kürzlich ist er unter die Schriftsteller gegangen und hat mit seinem epochemachenden Werke über Herstellung und Verwendung des Werkzeuggußstahls bei Kennern und Nichtkennern berechtigtes Aufsehen erregt. So ist er nicht nur, wie im Lustspiel, ein moralischer Mensch, sondern ein vielseitiges Talent, und hervorragendes Mitglied des kantigen Tisches in mehr als einer Hinsicht.“
Gustav Schürmann (14.5.1855 – 26.02.1903) Kaufmann, verheiratet mit Maria Friederichs
„Auch Gustav Schürmann ist ein zartbesaitetes Gemüt. In seiner ganzen Haltung spricht sich jener vornehme Takt aus, der um so wohltuender berührt, als er in diesem Grade nur selten bei Männern gefunden wird. Möglich, daß er sich das weise Dichterwort zur Richtschnur genommen: „willst du wissen, was sich ziemt, so frage nur bei edlen Frauen an!“ Möglich auch, daß er, wie scharfe Augen beobachtet haben wollen, besonders seit seiner Verheiratung von diesem Rate klugen und weisen Gebrauch macht. Unzweifelhaft dagegen ist es, daß er den bildenden Einfluss, welchen das Leben für jeden bietet, der mit offenem Blick und selbstständigem Urtheil durch die Welt geht, willig auf sich wirken lässt. Wie Hermann Hasenclever ist er ein viel- und weitgereister Mann. Daher denn auch sein weitherziger Gesichtspunkt und jene noble Art, die sich selbst dann nicht an einer angeblich verlorenen Bowle vorbeizudrücken sucht, wenn tatsächlich das Recht auf seiner Seite war. In der K. K. D. hatte Gustav Schürmann einen schweren Stand. Die Natur hat ihn nämlich in einem sehr wichtigen Punkte vernachlässigt, sofern ihm das Organ für systematisches Biertrinken völlig versagt ist. Aber, wie der große Redner Demosthenes durch unausgesetzte Übung das Stottern überwand, so besiegte er durch unverdrossene Ausdauer diesen für einen deutschen Mann so fatalen Mangel. Da es mit dem Trinken nun einmal nicht ging, so lernte er das Bier kauen und hat von dieser so seltenen Kunstfertigkeit wiederholt die glänzendsten Proben abgelegt. Hier wie sonst hat er gezeigt, daß er genau weiß, was er will und was er kann, allen denen ein nachahmungswürdiges Beispiel, die sich mit eigener Kraft und Energie die Selbstständigkeit erringen wollen.“
Hermann Böker (8.7.1844 – 16.5.1913) Kaufmann und Stadtverordneter, Präsident der Handelskammer, verheiratet mit Elisa Grothaus
„Das jüngste Mitglied des zehnkantigen Tisches. Schlank und geschmeidig wie eine Tanne, stets ein gewinnendes Lächeln auf dem freundlichen Gesicht, als Böker sofort kenntlich an den verräterischen Grübchen im Kinn und Wangen, bezaubert er jeden durch die unnachahmliche Grazie seines Grußes, durch die heitere Anmut seines äußeren und inneren Wesens. Noch heute repräsentiert er den Corpsburschen, nicht etwa in seiner exklusiven, sondern in seiner feinen, liebenswürdigen Form. Erst ganz vor kurzem hat er sein Weibchen heimgeführt und das eigene Nest gebaut. Darum wünschen wir ihm und seiner jungen Gattin auch an dieser Stelle: „Glück und Segen allerwegen!“
Verfasst von: Viola Meike
Fotos: Bild 1 Gustav Hilger, Bild 2 Moritz Böker, Bild 3 Hermann Böker