„9/10 aller Theaterleute sind Waschlappen und Scheisskerle“!
Fundstück des Monats März 2023
In der Nacht vom 30. auf den 31. Juli 1943 wurde beim großen Bombenangriff auf Remscheid die ganze Innenstadt in Schutt und Asche gelegt. Auch das Remscheider Stadttheater – damals noch in der Brüderstraße – wurde zerstört. Ein großer Teil der Akten der 1934 gegründeten Bergischen Bühne Remscheid-Solingen ging dabei verloren. Was an Akten übrig war, wurde vor Jahrzehnten zusammen mit dem nach der Zerstörung neu angelegten Aktenmaterial dem Archiv übergeben, zu einem einzigen Bestand zusammengefasst und in Archivkartons verpackt. Und dann vergessen.
Zu Jahresbeginn 2023 gab dann eine konkrete Anfrage den Anstoß zur Verzeichnung des Bestandes. Dieser gibt tiefe Einblicke in die Alltagswirklichkeit der Theaterleitung und des künstlerischen Personals in Zeiten des Krieges – speziell nach dem Wendepunkt des Krieges, nach der Katastrophe von Stalingrad. Doch noch war die Theaterlandschaft groß dimensioniert: Es gab 268 Reichs-, Staats-, Landes- und Stadttheater mit 222.000 Plätzen, betrieben von 28.300 Beschäftigten! Als sich das Kriegsglück wendete, nahm man natürlich auch die rund 30.000 Bühnenbeschäftigten ins Visier. Wer von den Männern im wehrfähigen Alter nicht U.K.-gestellt war, wurde eingezogen. Als der Krieg schon fast verloren war, ging der Reichsbevollmächtigte für den totalen Kriegseinsatz, Joseph Göbbels, so weit, sämtliche Theater, Varietés, Kabaretts und Schauspielschulen ab 1. September 1944 zu schließen. „Die freiwerdenden Kräfte werden, soweit sie kriegsverwendungsfähig sind, der kämpfenden Truppe zugeführt. Alle anderen finden in Rüstung und Kriegsproduktion Verwendung“, wie es in der entsprechenden Anordnung hieß.
Als der Intendant Hanns Donath im Herbst 1941 den Sänger Paul Kachelrieß als II. lyrischer Tenor für Oper und Operette verpflichtete, schien ein aus NS-Sicht glücklicher Ausgang des Krieges noch möglich. Der Sänger glänzte als Solist im „Fliegenden Holländer“, im „Land des Lächelns“, in der „Fledermaus“, er war Teil der Aufführung „Das Mädchen aus der Fremde“ und gab den Till Uilenspiegel in „Hille Bobbe“. Sein Engagement wurde in der Spielzeit 1942/43 fortgesetzt: „Die Perle von Tokay“, „Zigeunerliebe“, „Napoleon“, „Arabella“, "Paganini“, „Mona Lisa“ und wieder der „Fliegende Holländer“.
Die Liste ist bestimmt nicht vollständig: Die Programmhefte der Spielzeiten 1941/42 und 1942/1943 sind nicht überliefert, es finden sich nur vereinzelte Programmzettel. Mit ihm stand die berühmte Opernsängerin Martha Mödl als Teil des Remscheider Ensembles auf der Bühne, während die ebenfalls häufig an seiner Seite agierende Sängerin Erika Parbs in Vergessenheit geraten ist. Gerade Letztere aber wurde im Juni 1943 zum Ziel heftigster Beleidigungen durch ihren Bühnenpartner. Von dem entsprechenden Vorfall berichtete Hanns Donath am 8.6.1943 an die Reichstheaterkammer folgendermaßen:
„Paul Kachelrieß, seit Herbst 1941 an der hiesigen Bühne als Tenor für Oper und Operette engagiert, hatte wiederholt wegen undisziplinierten und rüpelhaften Betragens gegenüber den Bühnenvorständen und seinen Berufskameraden zu schweren Klagen Anlass gegeben, bis ein neuer Vorfall zu energischem Vorgehen gegen ihn zwang: auf einer Bühnenprobe zu ‚Paganini‘ beleidigte er seine Partnerin, Frau Erika Parbs vor versammeltem Personal mit den Worten: ‚Halt doch Du Deinen Mund, Du dämliches Stück!‘ Meine Versuche, Kachelrieß zur Entschuldigung zu bestimmen, lehnte er in schroffster und unhöflichster Form ab, obwohl ich ihm die Möglichkeit einer solchen Entschuldigung weitestgehend erleichterte. Da ich durch Befragen der Zeugen einwandfrei feststellte, dass Kachelrieß die beleidigenden Worte ohne jede Veranlassung seitens der Frau Parbs gebraucht hatte, war es meine Pflicht, der Dame Genugtuung zu verschaffen; ich tat das dadurch, dass ich meinerseits Frau Parbs vor dem gleichen Personal um Entschuldigung bat für den ungehörigen Ton, dem sie an meiner Bühne ausgesetzt worden sei. Statt nach dieser Beschämung nun doch noch einen Weg zur Entschuldigung zu finden oder statt mit dieser meiner Erklärung den Fall auf sich beruhen zu lassen, schrieb mir Kachelrieß einen unverschämten Brief, in dem er erneut gegen Frau Parbs üble Schimpfworte (Bestie, Drachen, Frauenzimmer, Person) gebrauchte und auch mich persönlich beleidigte, in dem er mein Einschreiten als „herrliches Intermezzo“ bezeichnete […]. Im gleichen Brief belegt Kachelrieß die Gesamtheit seiner hiesigen Kollegen und alle Theaterschaffenden mit den Worten: ‚9/10 aller Theaterleute sind Waschlappen und Scheisskerle‘.“